Die Charakterlosen, die Feigen, die Dummen
              und der ganz Dumme
    (autobiographischer Beitrag zur Aufarbeitung von DDR-Geschichte 1993)
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Die Charakterlosen, die Feigen und die Dummen


Lieber Gott, ach wär
ich doch so populär
wie Pastor Friedrich Schorlemmär !

Dann könnte ich auch in regelmäßigen Abständen den Medien meine Meinung kundtun, auch wenn es wie im Fall des preisgekrönten Pastors nicht gerade der  Weisheit letzter Schluß ist, um es ganz vorsichtig auszudrücken. Zuletzt lobte er  die  peinliche  Freilassung  von Honecker  und  war vorher für ein Gesetz, daß die Veröffentlichung von IM-Klarnamen verbietet. Wie gütig, doch Güte schützt vor Torheit nicht. Will er uns allen Ernstes um das einzig Positive der emsigen Spitzelarbeit  bringen, um die einmalige Gelegenheit,  die Charakterlosigkeit namentlich zu benennen. Es gibt für die Entwicklung eines Volkes nichts Gesünderes als solcherart Bilanz, auch Abrechnung genannt. Doch gütiger Pastor Schorlemmer, wir dürfen, wenn schon, denn schon, nicht nur die Charakterlosigkeit benennen, wir müssen auch mit der Dummheit und Feigheit in den Schichten abrechnen, die mit einer herausragenden Rolle bei der Entwicklung der Gesellschaft betraut sind.

Wer anders kann sich anmaßen, über Feige, Dumme und Charakterlose zu urteilen, als der, der nachweislich weder das eine noch das andere war. Es irrt, wer glaubt, diese mit der Lupe suchen zu müssen. Hunderttausende, bis heute wenig gewürdigt, entsprachen obiger Anforderung: die Ausreiseantragsteller. Sie hatten Stolz, der sich nicht mehr mit Unmündigkeit und Mitmachen vereinbaren ließ, sie hatten den Mut, sich mit der  Antragstellung öffentlich gegen das Regime zu bekennen und ihre bisherige Existenz aufzugeben und sie hatten den Verstand, das Westsystem als einzige Alternative zum "sozialistischen" Staat anzunehmen.

Die Masse der Ausreisewilligen, die der damalige IM  "Sekretär"  und jetzige brandenburgische Ministerpräsident  Stolpe 1989  als "Akteure eines Sommertheaters" bezeichnete, war deshalb die einzig dem Regime gefährliche Opposition, auch wenn ihr das selbst nicht bewußt war. Sie war es auch, die das System bei der ersten Gelegenheit zusammen mit der Mauer stürzte und auch noch danach den notwendigen Druck für die schnelle Wiedervereinigung Deutschlands erzeugte. Und das alles erreichte sie gegen den Widerstand von Kirche, Intellektuellen und Bürgerrechtlern, die immer wieder zum Hierbleiben aufriefen, ohne selbst mit  Mut  und  Verstand  die Basis für politisches  Handeln  Andersdenkender  zu schaffen. Nur wenige Pfarrer und Gruppen nutzten das unerschrockene Oppositionspotential der Antragsteller.

Die Bürgerrechtler, zumindest die Berliner, spielten bei der deutschen Revolution 1989  keine entscheidende Rolle, wie denn auch bei ihrer zahlenmäßigen Winzigkeit und ihrer extremen Zerstrittenheit. Doch Ursache für Winzigkeit und Zerstrittenheit war die in diesen Kreisen vorherrschende unglaubliche Borniertheit. Die Ablehnung des  Westsystems  als  einzige  Alternative  führte  zur  Distanz  zur  Masse  der Ausreisewilligen,  zur Ablehnung der im Volk populären Westmedien und zu einem unnützen Streit zwischen den Gruppen darüber, wie die neue Gesellschaft auszusehen hat. Infolgedessen waren der Bevölkerung bis kurz vor der Wende  weder Namen und Ziele oppositioneller Gruppen noch Namen einzelner Personen bekannt, und das trotz der Existenz eines gleichsprachigen Westfernsehens, das ideal für Information, Aufklärung und Aufruf gewesen wäre und von dem polnische und tschechische Dissidenten nur träumen konnten.

Es gibt keine verzeihliche Charakterlosigkeit, höchstens mehr oder weniger schlimme. Aber es gibt verzeihliche Dummheit und  Feigheit. Wenn der kleine Mann in einem Land mit fast 60-jähriger brauner und roter Diktatur den Überblick darüber verlor, was richtig und falsch ist, wenn er ohne jedes Risiko fast schon gewohnheitsmäßig zum Zettel reinstecken ging, dann war das angesichts nicht vorhandener Vorbilder verzeihliche Dummheit und verzeihliche Feigheit.

Aber wenn kritisch denkende Intellektuelle und Bürgerrechtler aus Arroganz und Ignoranz die einfachsten Binsenweisheiten nicht kapierten, jeder Logik hohnsprechend das politische Einmaleins nicht beherrschten, wenn sie die westliche Realität als Vergleich vor Augen immer noch vom wahren Sozialismus phantasierten und die Wiedervereinigung nicht als logische und moralische Konsequenz  aus der Geschichte begriffen, so war das im höchstem Maße unverzeihliche Dummheit.

Und wenn prominente Intellektuelle und führende Kirchenvertreter trotz ihres immensen Schutzes durch die Öffentlichkeit in einer Zeit, wo in Polen Solidarnosz an Macht gewann, wo Gorbatschow in Rußland Perestroika einleitete, wo fast jeder Ostdeutsche durch Verwandte und Bekannte mit der Ausreiseproblematik konfrontiert war, die Dinge nicht beim richtigen Namen nannten und in klarer Distanz zur Diktatur gingen, so war dies nicht nur unverzeihliche Feigheit, sondern Verrat am Ideal und Verrat am christlichen Auftrag.

Wenn ein Stefan Heym 1988 zum Gedenken der Opfer des Holocaust stundenlang im Westfernsehen über verfolgte Juden sprach, ohne auch nur ein Wort über Todesschüsse an der Mauer zu verlieren, verriet  er so nicht die, derer er gedenken wollte ? Er kritisierte die Feigheit der Deutschen, die nicht wagten, den in Güterwagons zusammengepferchten Juden Brot zuzustecken . Gehörte dazu nicht tausendmal mehr Mut als für einen prominenten Schriftsteller wie Stefan Heym, vor laufender Kamera das SED-Regime der Verletzung grundlegender Menschenrechte anzuklagen?  Und wenn dann dieser feige Herr Heym zusammen mit Christa Wolf nach der Wende mit einem öffentlichen Aufruf für die Beibehaltung der durch  braune und rote Faschisten wie Hitler und Stalin verursachten Spaltung unseres Volkes eintritt, so ist das für mich unverantwortliche Dummheit in Potenz.

Woher sollte der kleine Christ Mut zum Aufbegehren nehmen, wenn sich nicht einmal ein Bischof Forck traute, gemäß kirchlichem Auftrag von der Kanzel Wahrheit und Lüge zu benennen und das wichtigste Menschenrecht, das Recht auf freie Wahl einzuklagen. Er wagte nicht mal, die verfassungskonforme Forderung nach geheimer Wahl von der Kanzel auszusprechen. Die Kirche kann sich heute glücklich schätzen, daß es  einzelne mutige Pfarrer und die in ihren Gemeinden wirkenden Bürgerrechtler gab, sonst säße sie längst auf der Anklagebank.

Die links denkenden Bürgerrechtler, Intellektuellen und Vertreter der Kirche und späteren Gegner einer Wiedervereinigung, die nicht aufhörten, dem Staat zu beteuern, daß man keinen Sturz des Sozialismus sondern nur seine Verbesserung wolle und daß eine Demokratisierung dem sozialistischen System nicht schade, müßten heute eigentlich volles Verständnis dafür haben, daß die Stasi wegen besseren Wissens derartige Meinung mit allen Mitteln unterdrückte.

Bei der Aufarbeitung ostdeutscher Geschichte sollte niemand vergessen, daß sich entgegen aller Spekulationen Ost- und Westdeutsche charakterlich kaum unterscheiden dürften und daß man demzufolge mangels  politischer Bewährungsmöglichkeiten und wegen fehlender Stasiunterlagen die Dummen, Feigen und Charakterlosen im Westen nur nicht so einfach wie im Osten erkennen kann. Oder glaubt einer bei der Besetzung Westdeutschlands durch die Russen hätten sich keine Handlanger , Gläubiger  und  Mitläufer roter Diktatur gefunden, wie die sich ja bei brauner  auch unabhängig von der Himmelsrichtung gefunden haben ?  




Der ganz Dumme


"Es gibt nur Dumme
und ganz Dumme,
sieh zu, Junge,
daß Du nicht
zu den ganz Dummen gehörst !"

                    Richard Hannaske
                    (1906-1987)


Nachdem ich 1986, vierunddreißigjährig, aufgrund nicht mehr ertragbarer Unzufriedenheit mit privaten, betrieblichen und gesellschaftlichen Zuständen meinen Beruf als Diplommathematiker  bzw. Informatiker im Berliner Bremsenwerk aufgegeben und nachdem ich den meisten Verwandten, Bekannten und Kollegen in politischen Streitgesprächen Stolz oder Intelligenz abgesprochen hatte,

Ich habe Euch so über                    (H)
Ihr Einheitswählerschaft,
Ihr laschen Diskutierer
ohne Biß und Kraft.

Ich habe Euch so über,
Ihr mit der Mauer im Verstand,
Ihr das Unrecht Ignorierer
wie schon mal in diesem Land.

Ich  habe Euch so über,
weil ihr verkommen seid,
Ihr Belognen und Belüger,
Ihr ohne Stolz und Schneid.

Ich habe Euch so über,
will Euren Beifall nicht,
es wäre mir viel lieber
erröte Euch's Gesicht

Ich hab mich selber über,
weil ich Euch so gleich,
sing abends harte Lieder,
und am Tage bin ich weich.

Drum glaubt nicht meinem Worte,
das ich zum Beifall sang,
ich bin von der eitlen Sorte
und brauch ihn wohl, habt Dank.

nachdem ich als Nachtwache in einem Jugendwohnheim und als selbsternannter "Philosoph" und "Dichter" neben einer Abhandlung zur aus dem Materialismus erwachsenen Vorbestimmtheit des Lebens "Mit Logik zum Glauben" den 1985 begonnenen 45 minütigen Riesenreim "Sturz der Götter", womit der kleine Gott Erich und der große Gott Marx gemeint waren, beendet und abgetippt hatte, suchte ich 1987 in Berlin krampfhaft gleichgesinnte Oppositionelle sowie Abnehmer meines "herabwürdigenden" Produktes.

Ich dachte nicht, daß dies ein schwieriges Unterfangen sei. Doch bis ich Menschen finden sollte, mit denen man wirklich  etwas Vernünftiges zustande bringen konnte, vergingen über zwei Jahre. Ich hörte zwar ein oder zweimal im Fernsehen von einem gewissen Wolfgang Templin, aber wo findet man diesen Dissidenten in der Millionenstadt. Ein DDR-Normalbürger, der nie in die Kirche ging, kam nicht auf die Idee, dort nach politischen Freiräumen zu suchen. Auch dies ist, glaube ich, Zeugnis genug für Feigheit und Angepaßtheit hiesiger Kirche. Also suchte ich zuerst Partner in intellektuellen Kreisen im Prenzlauer Berg, in Clubs, wo dergleichen verkehrte, geriet an kritisch genannte Liedermacher und Dichter und mußte nach langen Diskussionen erkennen, daß sich hinter scheinbar geistreichen Sprüchen alles andere als Geist versteckte.

Den Dichtern in dem Land                    (HA)
mangelt's an Mut und an Verstand,
deswegen sind sie arrogant
und weitestgehend unbekannt.
                         
Sie verpacken und verschnüren,
verschlüsseln sprich codieren
den Scheiß, den jeder weiß,
und sagen's dann noch leis.

(( Beim Studium meiner völlig unvollständigen und zeitlich unsortierten weil schon für den Reißwolf bestimmten Stasiakte OPK "Waechter" (von Nachtwächter) im November 92 stellte ich fest, daß  gleich der erste Mensch, dem ich alle meine Texte zum Lesen bzw. zur Weitergabe anvertraute, ein wahrscheinlich auf Lutz Rathenow angesetzter IMB war. Diesem IMB Ferencs alias Dichter Frank Weisse habe ich es zu verdanken, daß ich heute, wenn auch sonst weiter nichts, wenigstens eine umfangreiche Stasiakte als Resultat meines oppositionellen Engagements vorweisen kann.Zu einem Dankesschreiben konnte ich mich allerdings noch nicht entschließen, zumal alle Unterlagen zwischen dem 30.4.87 und dem 16.12. 88 scheinbar verschwunden sind. ))

Durch Zufall hörte ich 1987 dann vom Kirchentag und von der "Kirche von unten" und ging hin. Hier fand ich endlich Menschen mit Mut, von denen mich einer mit meinem antimarxistischen Riesenreim an Freya Klier verwies. Diese ließ mich wochenlang auf eine "Audienz" warten. Ich hatte in meinen Gesprächen mit wichtigen  bzw.  sich als solche dünkenden Oppositionellen oft den Eindruck, als handele es sich um vielbeschäftigte Oppositionsführer, die gnädigerweise ein paar Minuten Zeit für einen Neueinsteiger erübrigten. Und wieder erlebte ich eine herbe Enttäuschung, wieder wurde ich mit einer unglaublich naiven Weltanschauung konfrontiert, daß es mir die Sprache verschlug. Frau Klier träumte von einer Gesellschaft unter Führung von Intellektuellen, in der die Menschen mehr nach geistigen Werten streben, als nach Farbfernseher und Auto zu gieren. Auf meinen Einwurf, dies doch gefälligst den Menschen selbst zu überlassen, und auf meine Frage, ob sie denn gegen Abweichler mit Drang zum Materiellen Strafmaßnahmen a' la Diktatur in grün anzuwenden gedenke, sprach sie von einem dementsprechend notwendigen Erziehungssystem für das dumme Volk. Hier war sie wieder, diese unerträgliche Arroganz einer sich als Elite dünkenden Schicht, die immer laut im Namen des Volkes spricht, um es dann leise für dumm zu erklären. Ähnliche Gedanken kamen mir, als Herr Schorlemmer später von der Konsumgeilheit der Ostdeutschen sprach.
              
Drum überlegt, wenn ich geendet,                    (H)
ob Ihr mir wirklich Beifall spendet,
und überlegt es Euch bei allen,
die nur mit Worten woll'n gefallen,
vertraut nicht jedem Sprachtalent,
das ausgefeilt und exzellent
wortgewaltig Euch umgarnt,
und damit doch nur Einfalt tarnt,
vor diesen Pseudointellektuellen,
die sich so gern ins Lichte stellen,
ihr Urteil ohne Logik fällen,
vor Arroganz fast überquellen,
vor diesen Blendern sei gewarnt.

Jeder noch so ängstliche Mitläufer aus dem Volk stand mir näher als diese Art Oppositionelle. Außerdem sind Menschen, die nicht nur für sich Verantwortung tragen, zum Abwägen zwischen der eigenen und der Würde ihrer Kinder verpflichtet, die bei Gefahr einer politischen Inhaftierung der Eltern unleugbar auf dem Spiel stand. Es gibt also sowohl verantwortliche Feigheit als auch unverantwortlichen Mut. Aufgrund meiner eigenen Situation hatte ich als 1983 ungewollt von Frau und Tochter  Geschiedener das "Glück", auf nahestehende Menschen keine Rücksicht nehmen zu müssen.


Ich verzeih dem Volk,                    (VHKA)
daß es die Fahne
nach dem Winde dreht,
es lebt der Mensch nur einmal,
und darum,
ist nun der Mitläufer,
der halbwegs frei
die Zeiten übersteht,
oder der eingesperrte Kämpfer dumm,
wer war der Schlaue,
etwa der Kommunist,
den man erschlug in Buchenwald,
oder der kleine Nazi,
der noch heut am Leben ist,
die Schuld verjährt,
Gewissen wird nicht alt.
Und dennoch braucht
das Volk den Held,
doch jeder fragt,
warum soll grade ich
riskier'n den Kopf und Kragen
für 'ne Welt,
die hinterher noch lächelt
über mich.


Nur, daß der kleine Mann und die kleine Frau ohne jedes Risiko, höchstens mit dem der Streichung einer Westreise, immer wieder  zur Wahlurne trottete, erregte ab und zu meinen Unwillen.


Sie schimpfen auf                    (VHKA)
die schönfärbende Presse,
doch schon beim kleinsten Risiko,
da halten sie die Fresse,
soll'n sie doch ganz
die Fresse halten,
solange sie die
Zettel falten.


          
Doch zur Entschuldigung, in den ganzen Jahren habe ich niemanden vernommen,
der über Westmedien zur Wahlverweigerung aufrief und deren Risikolosigkeit begründete.


Wie alle "Intellektuellen" brach Frau Klier mit dem Vorwurf meiner undialektischen Herangehensweise an komplizierte Gesellschaftsprozesse das Gespräch ab, gab mir aber noch die Adresse des Friedenskreises Friedrichsfelde, über den ich Rainhard Schult kennenlernte. Dieser hob sich durch seine einfache Art wohltuend von anderen ab, war aber im übrigen ebenfalls ein Träumer vom wahren Sozialismus.

Sie träumen noch immer                    (HKA)
den Traum, der zerbrach,
der sie unendlich betrogen,
doch sie werden nicht wach,
und auch dieses Lied,
es weckt sie kaum
aus dem Traum, der zerbrochen,
aus dem zerbrochenen Traum.

Der Traum ist zerbrochen,
nicht, weil ein Herrscher ihn brach,
ist an sich selbst gestorben,
und ich traure nicht nach,
der Traum ist zerbrochen
und der große Mann
würde Träumer Euch nennen,
der den Traum einst ersann.

Wahrgewordene Träume
gibt's nebenan,
wo man wirklich frei sprechen
und frei wählen kann,
das könn' sie nicht fassen,
was ich versteh,
durch ihre Traumbrille
sehn sie nicht, wie ich seh.

Immerhin lud er mich trotz der offensichtlichen politischen Differenzen zum "Elefantentreffen" ein, man kam sich schon so bedeutend vor, daß man Bonner Termini gebrauchte. So hatte ich die Ehre, bei einem Oppositionstreffen des Friedrichsfelder Friedenskreises unter Rainhard Schult und der Initiative Frieden und Menschenrechte unter Ibrahim Böhme anwesend zu sein. Außerdem war noch die aus insgesamt zwei Mann bestehende Gruppe "Gegenstimmen" unter dem marxbärtigen Wolfgang Wolf, einem Verfechter des kommunistischen Rätesystems dabei, für den ich später folgendes Gedicht schrieb:
                  
Verbildet, borniert,                        
kurz gesagt, dumm,
so treibt sich ein Marxbart
im Untergrund rum.

Sprachlich exzellent,
deshalb wirkt er weise,
proklammiert er fanatisch
seine Räteklugscheiße.

Dort, wo man mündig,
interessiert das kein' Schwein,
doch unsere Deppen
fall'n noch immer drauf rein.

Wie freu'n sich da hämisch
Mielke und Co.
über die Scharlatane
auf dem Sektenniveau.

Nach der Wende las ich im Spiegel, daß Wolfgang Wolf der IM "Max" war, der auch einen kleinen Beitrag zu meiner Stasiakte erbracht hat. Noch sprachgewandter als  "Max" war IM Ibrahim, der keine Gelegenheit ausließ, um mit seinem Wortschatz und historischem Wissen zu brillieren, so daß Inhalt und Zweck der Rede zur sekundären Angelegenheit wurden. Anhand der unterschiedlichen grundlegenden Anschauungen erkannte ich bald, daß ich bei  "Frieden und Menschenrechte" wesentlich besser aufgehoben war und sprach diesbezüglich  Böhme an, welcher mir seine Adresse gab und mich zum Vorbeikommen aufforderte. Ich war glücklich, denn ich glaubte, endlich im richtigen Kreis zu sein, wo man nicht wie in den Friedens-, Öko- oder Dritte Weltgruppen über alles andere als die Notwendigkeit grundlegender demokratischer Rechte redete. Doch bald kam die Ernüchterung. Böhme war fast nie antreffbar, und wenn doch, dann hatte er nie Zeit, und wenn er ein bißchen Zeit hatte und wir wegen angeblicher Wohnzimmerabhörwanzen ausschließlich in seiner Küche saßen, begründete er meine sich verzögernde Aufnahme in seine Gruppe mit Sätzen wie, er müsse noch mit dem und dem sprechen, oder, der Zeitpunkt sei gerade ungünstig. Jedoch vergaß er nie zu betonen, daß ich nur über ihn in die Gruppe käme und jeder andere Versuch zwecklos sei. Dann mußte er für längere Zeit ins Krankenhaus nach Jena. Mein langsam aufkeimender Unwillen verging, wenn dieser herzkranke, so von der Stasi gebeutelte Mann vor mir stand, und ich ließ mich wieder und wieder vertrösten. Meine Anregung, eine Aktion "Geheime Wahl 89" zu initiieren, da sich der Staat gegen diese formale und verfassungskonforme Forderung nach Wahlkabinenpflicht argumentativ schlecht wehren könne, verwarf er mit dem Hinweis auf sofort erfolgende Verhaftung. Ich erinnere mich, daß ich ihm, dem Spitzel, ein Schreiben gab, wo punktuell aufgeführt war, wie man vorgehen muß, damit die Stasi erst sehr spät von dieser Aktion erführe. Einmal, ich glaube, es war eine Veranstaltung infolge der Luxemburg/Liebknecht - Demonstration 1988, stand er plötzlich mit blutendem Kopf in der Kirche und reagierte auf meine besorgte Frage mit einem überheblichen Seitenblick, als wolle er sagen, was fragst Du, Einfältiger, wenn ein Ibrahim Böhme verwundet ist, dürfte der Grund doch wohl klar sein. Wenn man doch nur geahnt hätte, daß dieses, um mit Biermanns vorbildhafter Direktheit zu sprechen, arrogante Arschloch bestimmt nur gestolpert ist. Nachdem ich ihn noch einige Male ohne greifbares Ergebnis besucht hatte, gab ich wütend auf.


(( Inzwischen habe ich das Ibrahim Böhme beschreibende Buch "Genosse Judas" von Birgit Lahann gelesen und mich dabei erneut zutiefst bedauert, aus-gerechnet in die Arme dieses völlig charakterlosen Spitzels und Betrügers aus Passion gelaufen zu sein. Mir zum Trost ist die ganze Berliner Bürgerbewegung auf diesen frauenhändeküssenden Gockel hereingefallen. ))



Mir ist seit langem  alles sonnenklar,                    (HA)
was man hier verändern muß,
was schuld ist und schuld war,
drum sagte ich mir, Hartmut,
da Du soviel weißt,
geh doch in den Untergrund,
da braucht man Mut und Geist.

Refr.
Die freun sich über jeden,
der ihre Reihen stärkt,
doch von der großen Freude,
da hab ich nichts gemerkt.

Die winzig kleine Gruppe,
die ist sich groß genug,
je kleiner, um so reiner,
auch klug ist sie genug,
und außerdem, wer teilt schon gern
den schwer erkämpften Ruhm
der Creme  de  la  Creme
vom Bürgerrechtlertum.

Drum sagt ich mir,
mach Dich doch hier
weiter nicht zum Hans,
laß die doch da im eignen Saft
mit ihrer Arroganz,
frustriert zog ich die Lehre,
es will Dich hier kein Schwein,
'ne Untergrundkarriere
macht lieber man allein.

Ich schrieb mein Wissen nieder,
in Reime kreuz und quer,
verschaff mir jetzt mit Liedern
Stimme und Gehör,
da quatscht niemand dazwischen,
und niemand unterbricht,
ja Lieder, die sind ideal
für'n Schlauen so wie ich.

Und schmerzet mir die Kehle,
spiel ich die Finger wund,
es dürstet meine Seele
nach Creme vom Untergrund.

               
Im Februar 88 verlor ich durch Ausreise unerwartet plötzlich meine damalige Freundin. Sie war in der Gruppe von Ausreisewilligen, die bei der Luxemburg/Liebknecht-Demonstration die maßgebliche Rolle spielte, verschlief allerdings mit mir die Demo und war darüber todunglücklich, konnte aber dann trotzdem drei Wochen später raus, mit der Schikane, Tage vor der vereinbarten Ausreise ultimativ aufgefordert zu werden, das Land bis 24 Uhr zu verlassen, und das abends, wo kein Zug mehr zu dem angewiesenen westdeutschen Grenzübergang fuhr und ein Befahren des Grenzüberganges per Pkw für nicht ausreisende DDR-Bürger strengstens verboten war. Es blieb aber weiter nichts übrig, so daß ich und zwei Freunde an der Grenze noch bis 5 Uhr festgehalten wurden und als Folge ein
Ordnungsstrafverfahren erhielten. Die riesigen vorher nie gesehenen gespenstig erleuchteten Sperranlagen, ihr ängstliches Gesicht, die schmerzhafte Trennung, das alles war schon ein bewegendes und sich einprägendes Erlebnis.


Der kleine große Mensch                    (H)

'Nen kleinen großen Menschen
haben wir verloren,
er war menschlich groß,
doch von der Macht her klein,
weil die großen Kleinen brachen,
was sie schworen,
für die kleinen Großen da zu sein.

Der kleine große Mensch                                                 
ging durch die großen Sperren,
die hier ein großes Volk,
zwingen, klein zu sein
und sich zu bücken
vor den großen kleinen Herren,
die von der Macht her groß,
doch menschlich winzig klein.

Der kleine große Mensch
hat nur ein kleines Leben
und große Angst,
daß es zu klein gerät,
und niemand da,
der Hoffnung konnte geben,
daß es lohnt,
wenn man hier widersteht.

Drum such nicht Schuld
beim kleinen großen Menschen,
ich fühl mit ihm,
ich kann ihn gut verstehn,
wo sich klein macht
eine  riesengroße Kirche,
da fordert  nicht,
daß Kleine widerstehn.

Ihr Gesicht zuletzt,
ich werd es nie vergessen,
da war plötzlich Angst
vor dem eignen Mut,
ob's  für sie richtig war und gut,
wer kann das schon ermessen,
doch für uns war's
richtig, wichtig und auch gut.

Mit der letzten Aussage stand ich im totalen Widerspruch zu der Auffassung der meisten Bürgerrechtler, die mit Antragstellern nichts zu tun haben wollten und zur Meinung der Kirche, die ständig zum Hierbleiben aufrief, ohne selbst mit mutigen Kanzelreden dafür etwas zu tun. Ich selbst konnte mich mit den Antragstellern nicht nur wegen der meist übereinstimmenden politischen Ansichten identifizieren, bei meinen kompromißlosen Texten mußte ich schließlich auch mit der Variante Abschiebung rechnen. Ich hatte einen Freund, der schon jahrelang darauf wartete, seiner Freundin nach Westberlin zu folgen und dessen Wut  auf den Staat natürlich auch meine Art, die Dinge zu sehen und beim Namen zu nennen, mitbestimmt hat. Ich erinnere mich, wie wir einmal zusammen aufs Dach eines an der Mauer stehenden Hauses stiegen und vom Dachrand über den Todesstreifen schauten, bis ich erschreckt den uns beobachtenden und schon telefonierenden Posten auf dem Wachturm bemerkte. Wir beeilten uns und kamen gerade rechtzeitig runter, bevor ein Polizeiauto bremsenquietschend mit Sirene und Blaulicht um die Ecke fuhr. Danach hatten alle Dachluken der Straße Vorhängeschlösser. Meinem Freund mit seinem Ausreiseantrag wäre das  garantiert als Vorbereitung zur Republikflucht ausgelegt worden. Im Sommer 88 durfte er endlich raus.

Halt zu mir  !                    (HKA)

Halt zu mir,
ich schenk Dir
auch die Welt dafür.

In mir ist Kraft und Leidenschaft,
ich träume nicht mehr klein,
mein Traum, der ist unendlich groß,
komm Baby, steig mit ein.

Ich will endlich mal sehn die Welt,
Paris, Rom und LA,
doch dafür kriechen will ich nicht
wie'n Bettler, danke, nee.

Und muß ich dafür in den Knast,
und laßt Ihr mich im Stich,
für diesen riesengroßen Traum
riskier' ich das für mich.

Und Baby denk auch an Dein Kind,
das hier das Lügen lernen muß,
und gib mit mir den Freunden hier
'nen dicken Abschiedskuß.
   
Ich war allein, traurig und wütend. Ich hatte Wut auf den Staat, Wut auf die Intellektuellen, Wut auf die Bürgerrechtler, Wut auf die Duckmäuser, Wut auf alle, und wahrscheinlich dadurch nach 1986 endlich wieder eine ungeheure produktive Phase. Jeden Tag schrieb ich einen neuen Text. Das machte die Trennung halbwegs erträglich. Meine Freundin hatte sich, wie ich später erfuhr, bereits im Aufnahmelager neu verliebt und ließ mit Telefonanrufen  nervenaufreibend lange auf sich warten.
           
Getrennte Welt                                                     
ließ mich erkennen,
daß uns menschlich
Welten trennen.   

und

Wie schnell ein
dummer Mensch vergißt,
wo er hergekommen ist.

schrieb ich Ihr später, aber das war nur die ungerechte Reaktion eines Verletzten. Obiger Dreizeiler ist für so manchen Nachwendepolitiker viel passender. Eine neue Liebe brachte mir dann die Kraft zurück, meine geplante Liederkariere in die Tat umzusetzen.

Im Januar hatte ich per Zufall eine Einstufung mit Blödelliedern erfolgreich absolviert, besorgte mir auf deren Basis einen 10-Tausend Mark Kredit, kaufte eine Musikanlage und war im September 1988 für erste Auftritte in Berliner Jugendclubs mit meinem Programm "Und rosarot die Sau !" bereit. Der Titel war weniger politisch gemeint, sondern stammte aus einem meiner genialen Vierzeiler.

Die Sonne ist gelb,                                               
der Himmel ist blau,
die Wiese ist grün
und rosarot die Sau !

Anfangs bestand es je zur Hälfte aus Blödelei und satirischer Regimekritik. Mit jedem Auftritt wurde dann der Blödelteil eingeschränkt und der kritische Teil verschärft und vergrößert  bis es dem neuen Titel  "Sei aufrecht oder sei gar nichts!" entsprach. Nach 7 Auftritten hatte ich Auftrittsverbot, das heißt, in ostdeutscher Rekordzeit. Beim letzten Auftritt waren staatliche Vertreter anwesend und zweifellos ein vom Publikum gewollter Abbruch geplant. Dabei hatte man aber scheinbar den bestellten Teil des Publikums überschätzt oder falsch instruiert, denn die Zuhörer sprachen sich mehrheitlich gegen eine vom Klubleiter geforderte Unterbrechung des Programms aus.

Das Verbot wurde dann auf eine andere geschickte Weise ausgesprochen. Das Berliner Kulturhaus teilte mir mit, daß ich im falschen Bereich  eingestuft worden bin und deshalb am 14. November eine öffentliche Neueinstufung im Bereich Liedermacher erforderlich sei. Einen Tag davor wurde mir nach Abgabe der geforderten Texte vom Direktor des Berliner  Kulturhauses Siegfried Tümmler und in Anwesenheit von Vertretern des Magistrats mitgeteilt, daß ich an der geplanten Einstufung wegen politischer Unreife nicht teilnehmen darf. Als eine Begründung unter anderen wurde das einzig übriggebliebene unpolitische Blödellied herangeführt: "Wegen nationalsozialistischen Mißbrauchs des Kastrationsthemas verbiete sich dieses für die Liedpointierung."

Dieses dumme Hin und Her,                                          
nee, das gibt's bei mir nicht mehr,
dieses dumme Rein und Raus,
nee, damit ist es endlich aus,
Schau nicht mehr Hintern hinterher,
Hintern interessiern nicht mehr,
diese dumme geile Lust
bringt weiter nichts als Frust, Frust, Frust

Refr:  
Deswegen ließ ich mich kastriern,
das Tier in mir eliminiern,
bin nicht mehr Sklave von dem Ding,
das fast  mehr stand als wie es hing.
Wenn ich Euch seh, weiß ich wofür
ich das hab gemacht mit mir,
ach ihr tut mir ja so leid
in Eurer Unzufriedenheit,
'ne fremde Frau, 'nen fremder Mann
macht Euch mehr als Eigne an,
das führt zu Krach, das führt zu Streit,
der Sexualtrieb bringt nur Leid.

Schmeiß mich nicht mehr in der Balz,
den Weibern an den Hals,
bin nicht wie Ihr mehr in der Brunst,
hab mehr Zeit für Geist und Kunst,
Impotente sind gescheit
und voll Ausgeglichenheit,
mein Kater hat mich inspiriert,
denn der war vor mir kastriert.

Potente werdet impotent,
das ist der allerneuste Trend,
impotent intelligent,
dumm, wer noch miteinander pennt,
dann ist auch die Aidsgefahr
für Euch auf einmal nich mehr da,
und die Menschen sterben aus
vor dem Umweltholocaust.

So wurde aus dem Verbot nur die Nichtzulassung zu einer Einstufung.

(( Später erfuhr ich von einem Mitarbeiter der Bezirkskulturakademie, daß die Stasi mit einem ganzen Saal bestellter Buhrufer gedroht hatte, und aus der Stasiakte, daß der Direktor Tümmler sicherheitshalber schon den Aufkauf aller Eintrittskarten für die Einstufung veranlaßt hatte.))

Ich erklärte dem Direktor mein Verständnis für seine Entscheidung angesichts des für ihn auf dem Spiel stehenden Postens und war eigentümlicherweise gar nicht so erbost, wie man es hätte erwarten können, wahrscheinlich akzeptierte ich unterbewußt das öffentliche Auftrittsverbot als eine notwendige Stufe auf dem "Weg zum Ruhm". Und ich hatte es auch satt, in Jugendklubs vor kleinem und oft viel zu jungem Publikum aufzutreten und hinterher jedesmal fast mit schlechtem Gewissen die vor Angst sehr verärgerten Clubleiter zu erleben, die in der Regel nicht ahnten, daß sie mit mir alles andere als einen Blödelsänger engagiert hatten.

Monate nach dem Verbot im Mai 89 fand noch einmal eine "Werkstatt" Publikum fürchtend weit draußen am Rande von Berlin statt, wo ich vor der Berliner Liedermacherprominenz und Leuten aus dem Berliner Kulturhaus meine härtesten Texte vortrug, daß es manchem die pseudointellektuelle Brille beschlug. Wenige, darunter Norbert Bischoff, sprachen sich gegen ein Verbot  aus, aber zu echter  Unterstützung fehlte der Mut, doch wie konnte man den bei denen erwarten, die sich schon mutig vorkamen, wenn sie angesichts Mauertoter betriebliche Zustände kritisierten. Einer  sprach  sich  offen  und aggressiv  für mein Verbot  aus: "Liedermacher" und  Genosse Christian Krebs.

Dumme singen seichte Lieder,                    (HA)
Dumme halten das für Mut,
Dumme klatschen Ihnen Beifall,
dafür sind die Dummen gut.

(( Christian Krebs, der kurz nach der Wende einen Rundfunkbeitrag  mit dem Titel "Songs und Zensur in der alten DDR" gestaltete, in der er sich frech mit Biermann, Bettina Wegener und Krawczyk auf die Seite der Opfer stellte und der heute wohlsituiert in Österreich lebt, war bei einem zufälligen Treffen 1993 zu feige, seine damalige Dummheit und  Charakterlosigkeit  einzugestehen, der anständige und künstlerisch hochtalentierte Norbert Bischoff nahm sich am 3. Oktober 1993 das Leben.))

Nun konnte die Untergrundkarriere als singender Dissident beginnen, Krawczyk hatte diese Planstelle freiwillig geräumt, was ihm die Bürgerrechtler schwer übelnahmen.  
              
Und droht man mir mit dem Schafott,                    (HA)
ich kniee nicht vorm falschen Gott,
und knotet man  mir schon den Strick,
ich nehm deshalb kein Wort zurück,
und hing ich morgen schon daran,
bereu ich nicht, was ich getan.
   
Der Tod ist mir kein größres Leid,
als die Mittelmäßigkeit,
nichts schreckt mich so sehr auf Erden,
wie unbedeutend alt zu werden.
   
Was ich riskiere, das tu ich
vor allem andern doch für mich
und dann erst für 'ne beßre Welt,
drum dumm, wer mich erhebt zum Held.
    
Schon morgen kann ich anders denken,
wenn's mich grault vor dem Erhenken,
dann kommt mir vielleicht in den Sinn,
daß ich ein großer Narr doch bin,
und leugne mich, eh man mich killt,
dumm, wer mich dann Verräter schilt.

Doch was hatte ein Krawczyk bei seinem Bekanntheitsgrad schon zu riskieren ?  Er konnte nur gewinnen.   (Die Aussage obigen Gedichtes erzwingt auch den Schluß, daß Menschen, die unter Bedrohung eigener Existenz zur Mitarbeit mit dem Regime erpreßt worden sind und dabei  nur im notwendigen Maße tätig waren, natürlich nicht als charakterlos gelten können.)

Wie gesagt, Planstelle Krawczyk war frei, der zweite Abschnitt meiner "Karriere" konnte beginnen. Ich gab Rainhard Schult 3O Offerten bestehend aus dem Plakat "Sei aufrecht oder sei gar nichts !", einer Beschreibung des Auftrittsverbotes und einer logische Herleitung, daß das einzig wichtige Menschenrecht, das Recht auf freie Wahl ist, und daß sich alle weiteren Menschenrechte daraus ableiten, zur Weiterverbreitung über die Umweltbibliothek. Ergebnis gleich  Null.

Daraufhin nahm ich alle Texte und Lieder auf zwei Kassetten auf und verteilte sie unter dem Titel "Die Herabwürdigung" an Rainhard Schult, an die Umweltbibliothek, an Pfarrer Eppelmann  und an Marianne Birthler vom Jugendpfarramt mit der Bitte um Auftrittsgelegenheit.. Reaktion gleich Null.
(Im März gab ich sie auch "Dichter" Frank Weise, der sie sofort zur Stasi trug.)

Auf Nachfrage erklärten mir Vertreter der Umweltbibliothek, daß sie mich wegen meiner inhaltlichen Aussagen in ihren Räumen nicht auftreten lassen, das hieß im Klartext: Auftrittsverbot nach Staatsmanier. Für diese Umweltbibliothek hatte ich im Dezember 87 nächtelang Mahnwache gehalten. Später widersprach einer von ihnen beim Wiederbringen der Kassetten unter vier Augen meiner Ansicht, die jetzigen Oppositionellen müßten einmal die zukünftig Regierenden sein, mit der Bemerkung, daß er lieber die SED als die Chaoten von der Umweltbibliothek an der Macht sähe. Ich konnte dem eine gewisse Logik nicht absprechen.

Irgendwann im Frühjahr 89 trat ich auf Wunsch mit Liedern bei einer Silberhochzeit auf dem Dorf auf. Der mich einladende in Berlin lebende Bruder des Bräutigams kannte meine Lieder und hatte keine Bedenken. Nach dem ersten Lied verließ der Dorfpolizist den Tisch, beim zweiten der Feuerwehrchef, das Brautpaar erblaßte, andere gaben sich redliche Mühe, ihr Lachen hinter vorgehaltenen Händen zu verstecken, danach betretene Stille.  Das Brautpaar legte mir nahe, auf einen zweiten Auftritt zu verzichten. Durch ausschließlich eigene unpolitische Blödellieder gelang es mir dann aber doch noch, die Stimmung zu retten.

(( Stasiakte: Vom 11. bis 15. Mai 89 wurde ich und gleichzeitig eine drei Straßen weiter wohnende Bekannte, die mich mit Dichter Frank Weise alias IMB "Ferenc" zusammengebracht hat und die die Stasi seitdem fälschlicherweise für meine Freundin hielt, rund um die Uhr observiert, ohne das dafür ein besonderer Grund ersichtbar ist. ))

Dann Mitte Mai bekam ich über einen Freund Kontakt zu einer Gruppe von Ausreiseantragstellern, die in der Bekenntniskirche Berlin Treptow bei Pfarrer Hilse beheimatet war. Diese organisierte einen Auftritt anläßlich einer Veranstaltung des mir bis dahin unbekannten Netzwerkes Arche, allerdings nur in einem kleinen Nebenraum. Das Publikum war begeistert. Am meisten johlten sie bei einem Gedicht über Honecker, bei dessen Lesen man sich die Aussprache unseres ehemaligen Staatschefs in Erinnerung rufen sollte.

Er ist der allererste Sekretär,                    (H)
und das Reden fällt ihm ein bißchen schwer,
er sagt "Swjetnien" statt Sowjetunion,
doch alle hier verstehn ihn schon.

Und ist er auch kein Sprachtalent,
er gewinnt jede Wahl mit 99 Prozent,
er sagt "Swjetnien" statt Sowjetunion,
doch alle hier die wähl'n ihn schon.
Neulich war er in der BRD
und hielt dort eine Re-ede,
er sagt "Swjetnien" statt Sowjetunion,
und ein Sprecher übersetzte ihn synchron.

Am liebsten fährt er, und das ist bekannt,
in sein wahres Heimatland,
in die "Swjetnien", das heißt in die Sowjetunion,
doch, seit's dort gorbatschowt,
fährt er nicht mehr so oft.

Werner Pethke vom Netzwerk Arche sprach mich daraufhin an, ich wurde Mitglied seiner Gruppe "Sozialökologische Partnerschaft" und fühlte mich erstmalig richtig dabei. Das grünökologische Netzwerk Arche unterschied sich in drei wesentlichen Punkten wohltuend von bisher kennengelernten Gruppierungen. Hier saßen  auch Anhänger westähnlicher Gesellschaftsstrukturen, je nach Anschauung konnten unter dem schützenden Dach beliebig viele Untergruppen gebildet werden und Ausreiseantragsteller waren gleichberechtigte Mitglieder, vor allem letzteres gab den Diskussionen die richtige Schärfe und damit allen mehr Mut.
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